Ein Gedanke zum Monatsbeginn November
Kennt ihr den Wolf von Gubbio? Diese Sagengestalt galt als Böse und Reißerisch. Er fraß, was ihm vors Maul kam: Tier und Mensch, so dass in der kleinen umbrischen Stadt Gubbio die Angst umherging. Keine und keiner traute sich mehr vor die Stadtmauern, aus Angst, vom Wolf gefressen zu werden. Bis der heilige Franziskus in die Stadt kam und furchtlos auf den Wolf zuging. Franziskus sprach ihn an, hielt dem Wolf seine Gräueltaten vor und besänftigte ihn. Dann schloss er einen Pakt mit ihm: Der Wolf solle ihm versprechen, dass er die Menschen der Stadt und die Tiere in Frieden lasse, dann würden die Menschen für ihn Sorgen und ihm geben, was er zum Leben benötige. Der Wolf und die Menschen haben sich auf diesen Vertrag eingelassen und es kehrte Ruhe und Frieden ein in der Stadt.
„Eine Geschichte, zu schön, um wahr zu sein“, mögt ihr jetzt denken. Die Legenden, die sich im Laufe der Zeit um den Heiligen Franziskus gebildet haben, entbehren in der Tat eines gewissen Realitätssinns. Aber andererseits: Der Heilige Franziskus ist sehr real. Er war zweifelsohne ein Mensch mit einer beeindruckenden Ausstrahlung. Wer ihm begegnete, so stelle ich mir es vor, konnte nicht anders, als in ein kraftspendendes Staunen zu geraten. Und wenn auch die Geschichten irreal wirken, die Hoffnungen und die Erwartungen, die auf ihnen liegen, sind sehr konkret und real. Real eben durch diesen Menschen Franziskus, dem wohl zu eigen war, was in uns allen geweckt werden will: Mut, sich nicht zufrieden zu geben mit dem was ist, und aus dem eine Kraft erwächst, anders zu reden, anders zu leben und - das vor allem - zu vertrauen.
Wer dem Leben Sinn und Zukunft abringen möchte, der bedarf eines solchen Mutes, sich einzubringen, Bedürftigkeiten wahrzunehmen, Ängste zu realisieren und diese ernst zu nehmen. Der Heilige Franziskus hat die Angst der Menschen ernst genommen und dann Wege gefunden, ihre Angst zu entkräften.
Wie ihm dies gelungen ist? Indem er dem – vermeintlich – bösen Wolf die Angst vor dem Verhungern genommen hat. Denn der vermeintlich Böse war nicht wirklich böse, er war nur voller Angst, sein Leben durch Hunger zu verlieren. Wörtlich heißt es in der Geschichte: „In seinem Hunger war er von grimmiger Wildheit“.
Auf unsere heutige Zeit übertragen wäre es wohl naiv zu denken, so könnten die Probleme überwunden werden. Die Selbstlosigkeit eines Heiligen Franziskus und die Bereitschaft zum Verzicht bis hinein in eine spürbare Armut traut sich kaum eine/einer zu. Die Menschen in Gubbio hat dieser Wagemut des Heiligen Franziskus ins Nachdenken gebracht: Sie verzichteten auf Wiedergutmachung und waren stattdessen bereit, selbstlos von sich zu geben.
In diesen Tagen ist Gustavo Gutierrez in Lima gestorben. Mit seinem ersten Buch, das 1971 unter dem Titel „Theologie der Befreiung“ veröffentlicht wurde, gilt er als der „Erfinder“ der gleichnamigen theologischen Ausrichtung. Sehr spät erst, im Jahr 1999 gab er seinen Dienst als Diözesanpriester auf und trat dem Dominikanerorden bei. Seine Begründung damals: „Lieber Schutz durch einen Orden, als Cipriani ausgeliefert sein“. Dazu muss man wissen, dass Juan Cipriani Thorne der damalige Erzbischof von Lima war, der dem Opus Dei angehörte. Theologie sollte, so Gutierrez, eine Antwort auf die gesellschaftliche Wirklichkeit sein und nicht ein Festhalten an Überlieferungen. Während meines Studiums durfte ich einmal diesem wunderbaren Menschen in Frankfurt/M begegnen. Dank ihm (und sicher einigen anderen) weiß ich, dass es auch heute Menschen gibt, die sich nicht von Ängsten gefangen nehmen lassen, sondern sehr real und konkret in unserer Welt ihren Teil dazu beitragen, dass wir uns erinnern dürfen: Unsere Welt war einmal paradiesisch; und wenn sie das heute auch nicht mehr ist: Die Hoffnung auf Frieden und Verbundenheit ist da.
Euer
Christoph Simonsen