Ein paar neue Gedanken zur Ausstellung #missbrauch

2023_03_12_cs_impuls (c) Chr. Simonsen
2023_03_12_cs_impuls
Datum:
Sa. 11. März 2023
Von:
Christoph Simonsen

Gibt es etwas Schöneres, als sich an irgendetwas – oder besser noch: an irgendjemandem zu erfreuen? Ich hab vor meinem inneren Auge das Strahlen in den Augen meines Neffen, dessen Ehefrau gestern, am Freitag, nach einem halbjährlichen Auslandsaufenthalt in Australien zurückgekehrt ist. Kein Videotelefonat, keine Mail kann ausgleichen, was sich in einer persönlichen Begegnung widerspiegelt: Der verliebte Blick, der nicht beim äußeren stehen bleibt, sondern ins Herz schaut; die Umarmung, die nicht erdrückt, sondern Geborgenheit schenkt; das Lächeln, welches so unwiderstehlich zum Ausdruck bringt: ‚Du bist gemeint, nur du‘. Einen Menschen zu begehren, ist wohl einer der schönsten Gefühle.

Begehren: ein inneres Verlangen, einem anderen Menschen nahe sein zu wollen; eine tiefe Erkenntnis, sich selbst erst erkennen zu können im Gegenüber eines anderen Menschen; eine existentielle Einsicht, im anderen Menschen Erfüllung seiner selbst zu finden: Und all dies, ohne den anderen Menschen besitzen zu wollen, ihn sich selbst angleichen zu wollen, ihn formen zu wollen; all dies in einer heiligen Achtung vor dem Selbstsein des/ der anderen.

Ja – und das mag beim ersten Hören erschrecken: In dem Wort ‚begehren‘ verbirgt sich auch das Wort ‚Gier‘. Das Substantiv zum Verb ‚begehren‘ ist ‚Begierde‘.

Alles Schöne, Erstrebenswerte, Erfüllende kann auch missverstanden werden, missbraucht werden. Die Bilder der Ausstellung hier verdeutlichen dies unmissverständlich. Sie zeigen nicht eine Freude am anderen; sie zeigen die Gier, Macht ausüben zu wollen über andere; sie zeigen die Gier, sich selbst auf Kosten anderer vergnügen zu wollen; sie zeigen die hässliche Seite menschenmöglicher Unmenschlichkeit.

Wann verformt sich ein erfüllendes ‚begehren‘ in missbräuchliche Begierde? Wenn die Beantwortung nur so einfach wäre. Wie so vieles im Leben liegen Wohl und Wehe näher beieinander, als uns Menschen lieb ist. Eines scheint mir unabdingbar zu sein: ‚Ich muss mich selbst prüfen. Ich muss bereit sein, mich selbst zu fragen, wer die andere/der andere für mich ist und wer ich für die andere Person bin.‘ Begegnen wir uns ebenbürtig oder gibt es ein Gefälle zwischen uns? Bereichern wir uns einander? Können wir einander ins Gespräch bringen, wer wir füreinander sind? Ein Begehren findet Worte, Begierde ist stumm.

An manchen Tagen faßt mich ein Begehren

Nach Glanz und Glück und wilder Rhythmen Glut,

Nach Purpurrosen, tief und rot wie Blut,

Und heißen Frauen, die mit liebesschweren

Sturmküssen dämmen meiner Wünsche Flut.

Doch tief in diesem grellen Lustverlangen

Zittert ein einz'ger leiser Wunsch allein

Nach einem atemstillen Glücklichsein,

Nach Frieden, den mir stille Lieder sangen

In meiner Kindheit goldnem Sonnenschein.

(Stefan Zweig)