Ansprache von Christoph Simonsen zum Fest Mariä Himmelfahrt 2020

Datum:
Sa. 15. Aug. 2020
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

 

Lesung aus der Offenbarung des Johannes (11,19a; 12,1-6a.10)

Der Tempel Gottes im Himmel wurde geöffnet und in seinem Tempel wurde die Lade seines Bundes sichtbar. Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt.  Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen. Ein anderes Zeichen erschien am Himmel und siehe, ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab. Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war. Und sie gebar ein Kind, einen Sohn, der alle Völker mit eisernem Zepter weiden wird. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt. Die Frau aber floh in die Wüste, wo Gott ihr einen Zufluchtsort geschaffen hatte. Da hörte ich eine laute Stimme im Himmel rufen: Jetzt ist er da, der rettende Sieg, die Macht und die Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten.

 

Nach der Säkularisierung sei unsere Gesellschaft „geworfen auf die klebrige Spur der Evolution“, so formulierte es einmal der Philosoph Peter Sloterdijk. 

Ich glaube, der Philosoph wollte damit eine gewisse Trostlosigkeit und Traurigkeit zum Ausdruck bringen, dass wir Menschen nur noch in Erklärungs- und Deutungsmustern denken und reden können und es verlernt hätten, die Kraft der Mythen und Märchen zu würdigen. Und so ganz Unrecht hat er glaub ich nicht. Aber es gab auch andere Zeiten; Zeiten, in denen die Menschen sich Geschichten erzählt haben und Lebenserfahrung und Phantasie miteinander zu verbinden wussten. 

 

Heute, am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, durften wir aus so einer alten Geschichte hören. Und wenn ich sage, Geschichte, dann bedeutet das nicht, dass die Wahrheit hier zurücktreten müsste. Die Kunst der Mythen ist es, Wahrheit und Phantasie miteinander geheimnisvoll ineinander zu verweben. 

 

Die Geschichte, in die wir heute hineingezogen werden, ereignet sich nicht irgendwo, sondern im Himmel. Es ist eine Geschichte, die uns im Unklaren lässt darüber, in welcher Zeit sie angesiedelt ist.  Sie scheint von einer Zeit vor der Erschaffung der Welt zu erzählen, aber sicher ist es nicht. Gewiss ist allerdings, auch im Himmel scheint nicht nur Friede zu sein und Feststimmung. Ausruhen im Himmel ist wohl nicht. Leben ist anstrengend und bleibt anstrengend. Wer die Nähe Gottes sucht, wer seine Nähe spüren möchte – und Himmel ist: nahe sein bei Gott -, dem werden Entscheidungen abverlangt.

 

Das war vor der Zeit so, das ist auch heute so. Wahrheit ohne Phantasie ist kaum denkbar, wie Phantasie ohne eine Rückgebundenheit an die Wahrheit zur Phantasterei verkommen würde. Wer sich heute der Mühe unterziehen möchte, die Nähe Gottes suchen und wer seine Nähe spüren möchte, der benötigt eine gehörige Portion Mut zur Wahrheit genau so wie einen inneren Drang, der Phantasie Vertrauen zu schenken. Wahrheit will gesucht und Phantasie will zugelassen werden. Wahrheitssuche ebenso wie eine willkommene Phantasie halten und bringen Leben in Bewegung. Wer hat diese Erfahrung nicht kompromissloser machen müssen als Maria? Leben beinhaltet die Bereitschaft zu Veränderung. Die Bewegung Maria 2.0 setzt fort, was Maria beispielhaft vorgelebt hat: Sich auf Gott einlassen heißt: sich auf das Leben jetzt und hier einzulassen und Verantwortung zu übernehmen für heute und für Morgen.

 

Aber schauen wir noch einmal auf die eben gehörten Worte aus der Offenbarung des Johannes: Das gerade Gehörte beginnt mit der Öffnung der Lade im himmlischen Tempel. In der Lade liegen die Steintafeln des Moses, auf denen die 10 Gebote aufgeschrieben sind; die Gebote Gottes, die so klingen, als seien sie Verbote: „Du sollst nicht, du sollst nicht, du sollst nicht…“. Aber in jedem einzelnen „Du sollst nicht…“ offenbart sich eine ernsthafte Einladung, Leben achtungsvoll und ehrfürchtig zu gestalten. Gottes Gebote sind eine Herausforderung zu einem verantwortungsbewussten Leben und einem verantwortlichen Lebensstil.

 

Die Lade öffnete sich, die göttlichen Gebote wurden offenbar und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: „Eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. 

Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen.“ Märchenhafte Bilder, der ganze Kosmos, alles was ist, ist dieser wundersamen Frau zugetan und zugleich ist Schmerz da und Anfeindung, sichtbar gemacht in dem anderen Zeichen des feuerroten siebenköpfigen Drachen. Wo wir Menschen auch sind, was immer wir zu tragen haben, mitten im Gebären, mitten im Werden und Wachsen des Lebens, mitten in der Schönheit der Schöpfung, im Funkeln der Sterne und im Strahlen der Sonne: in all dem ist das verheißungsvollste Geschöpf, die gebärende Frau, der Dunkelheit und dem Tod ausgesetzt. Wer sich den Weisungen Gottes stellt, der wird auch immer mit ihnen und um sie ringen müssen. 

 

Was anders erleben wir heute? Wer versucht, aus dem Glauben zu leben, der muss sich auf Auseinandersetzungen einstellen, auf ein ständiges Ringen um gute Wege.

 

Und dieses Märchen wird immer geheimnisvoller, unverständlicher, jeglicher Sinn scheint sich zu entziehen, denn wer könnte verstehen, dass das neugeborene Kind auf den Thron Gottes entrückt wird und die Frau in die Wüste fliehen musste. Selbst wenn ihr die Wüste ein von Gott zugedachter Zufluchtsort sein sollte, so bleibt Wüste eben Wüste, karg und dem Leben alle Kraft abringend, um überhaupt überleben zu können. Was nutzt die Macht und die Herrschaft Gottes und was berechtigt, vom rettenden Sieg Gottes zu sprechen, wenn das Leben ein Wüstenleben bleibt? Banal gefragt: Wo ist der Gewinn für mich, für den Menschen überhaupt, sich diesem Gott anzuvertrauen? Was nutzt mir die Herrschaft Gottes, wenn mein und des Menschen Zufluchtsort die Wüste ist? Je mehr ich mich in die Prophezeiungen des Johannes hinein vertiefe, umso düsterer, aussichtsloser und fragwürdiger wird mir die Sinnhaftigkeit des Glaubens; warum glauben, wenn glauben nur anstrengend, nur mühevoll und leidvoll ist? 

 

Auch hier sind die Parallelen zu unseren augenblicklichen Situationen virulent. Weil das Streiten und das Suchen so anstrengend ist, ziehen sich viele zurück. Verabschieden sich aus den Diskussionen und Streitgesprächen, suchen bestenfalls Nischen, in denen Sie Glauben und Leben miteinander zu verknüpfen versuchen. Nicht wenige verinnerlichen ihren Glauben und richten ihr Leben danach aus, verantwortungsvoll und ethisch integer. 

 

Erst jetzt, in dieser düsteren inneren Befindlichkeit sehe ich, dass der vorliegende Text, wie die Kirche ihn für heute auserwählt hat, einige Verse zwischendrin ausgelassen hat, nämlich die Verse 7-10 des 12. Kapitels. Aber genau da wird Wesentliches beschrieben, dass nämlich ein Kampf stattfindet zwischen den Engeln Gottes und dem Drachen. Die Engel Gottes, an der Spitze Michael, gewannen den Kampf, der Drache und seine Engel wurden gestürzt und auf die Erde hinab geworfen. Das macht mir Mut: Wer um des Guten Willen kämpft, der wird auch gewinnen. Nicht die Herrschaft Gottes ist das Ziel der Auseinandersetzung und des Kampfes, sondern die Befreiung des Menschen. Die Herrschaft Gottes ermöglicht die Befreiung des Menschen. Gott herrscht nicht, um zu herrschen, sondern um zu befreien. Gott dreht sich nicht um sich selbst, Gott geht es um das, was er geschaffen hat, Gott geht es um uns und seine Schöpfung, in der wir leben. Darum muss es auch uns in allen gegenwärtigen Auseinandersetzungen gehen: um die Befreiung von all dem, was Mensch und Schöpfung versklavt und knechtet.

 

Die Frau, die in die Wüste geschickt wurde, ist sie die gleiche Frau, die Quelle der Befreiung werden sollte und die später beten konnte: „Der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen…“? War die Wüste als ihr Zufluchtsort, die Wüste als ein Ort der Orientierungslosigkeit und der Ungewissheit, die Wüste als Synonym  dafür, nach Bestimmung und Lebenssinn suchen zu müssen, war diese Wüste zur Quelle der Gewissheit geworden, dass, den guten Kampf zu kämpfen, nicht nur anstrengend ist und Kraft verzehrend, sondern Sinn macht und Sinn schenkt? Wenn dem so ist, dann sollten wir kraftvoll und zukunftsorientiert weiter streiten, weil wir nämlich hoffen dürfen, Sinn zu finden: Lebenssinn und Glaubenssinn.

 

Maria zeigt, was wir Menschen gewinnen, wenn wir uns diesem Gott der Befreiung anvertrauen: Zukunft gewinnen wir. Und in allem gewinnen wir die Erkenntnis, dass nicht das Machbare, das Kontrollierbare, das Erklärbare uns Menschen das Leben sichert, sondern das Unvermutete, das Unverhoffte, das Geheimnisvolle; oder, um den Himmel ins Spiel zu bringen: Das nach oben hin Offene. Und dann wird jede Gefahr verbannt sein, dass wir auf der klebrigen Spur der Säkularisierung ausrutschen könnten.