Ansprache von Christoph Simonsen zum 3. Sonntag in der Fastenzeit - Lesejahr C

Datum:
So. 20. März 2022
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Evangelium nach Lukas (Lk 13,1-9)

Zur gleichen Zeit kamen einige Leute und berichteten Jesus von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit dem ihrer Opfertiere vermischt hatte. Und er antwortete ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer größere Sünder waren als alle anderen Galiläer, weil das mit ihnen geschehen ist? Nein, sage ich euch, vielmehr werdet ihr alle genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt. Oder jene achtzehn Menschen, die beim Einsturz des Turms am Schiloach erschlagen wurden - meint ihr, dass sie größere Schuld auf sich geladen hatten als alle anderen Einwohner von Jerusalem? Nein, sage ich euch, vielmehr werdet ihr alle ebenso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt. Und er erzählte ihnen dieses Gleichnis: Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum gepflanzt; und als er kam und nachsah, ob er Früchte trug, fand er keine. Da sagte er zu seinem Winzer: Siehe, jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach, ob dieser Feigenbaum Früchte trägt, und finde nichts. Hau ihn um! Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen? Der Winzer erwiderte: Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er in Zukunft Früchte; wenn nicht, dann lass ihn umhauen!

 

Ansprache:

„Vielleicht trägt er doch noch Früchte.“ Vielleicht! Und wenn nicht? Wird er dann wirklich umgehauen? Die Frage bleibt offen. Hier endet unser heutiger Evangeliumtext, geradezu geheimnisvoll, gespenstisch, für manche vielleicht beängstigend. Jesus entlässt  seine Zuhörerinnen und Zuhörer ins Ungewisse. 

Vielleicht! Vielleicht ist das unsere Chance. Uns ist Zeit geschenkt. Kostbare Zeit, in der wir überlegen können, was in unserer Hand liegt, damit der Baum im nächsten Jahr doch noch Früchte trägt. Aus diesem symbolischen Bild des Evangeliums ausscherend, müsste die Frage wohl lauten: Welche Möglichkeiten haben wir, damit all das, was in unsere Hände und in unsere Verantwortung gelegt ist, Früchte trägt. Und das bedeutet wohl, was können wir tun, damit auf dieser Erde alles wohl gedeihen und leben kann?

 

Diese Frage zerreißt mich. Ich weiß nicht, wie es Euch ergeht. Und mir missfällt die Versuchung, die in diesem Text verborgen ist: Die Versuchung, den Zeigefinger zu erheben und euch und mir die Moralkeule um die Ohren zu schlagen, dass wir doch alles schlechte Menschen sind, dass wir es nicht geschafft haben, dieser Welt den Friedensstempel Gottes aufzudrücken und so weiter und so weiter. So würde unser Glaube wieder einmal missbraucht, um Menschen zu zügeln und zu gängeln. Mehr Druck und noch mehr Angstmacherei, weil alles Übel dieser Welt darin begründet ist, dass wir zu wenig glauben. Das gerade gehörte Evangelium schlägt alle Argumente auf, die diejenigen heute benutzen, jegliche Veränderung in der Kirche zu verteufeln. Nach dem Motto: ‚Wenn ihr nicht alle der reinen Lehre der Kirche vertraut, dann werdet ihr umgehauen wie der Baum, der keine Früchte trägt.

 

Die ganze Erzählung ist ja schon merkwürdig. Pilatus – also der Ungläubige – bringt Menschen aus Galiläa - also gläubige Juden - um. Die Galiläer sind  eigentlichen die Opfer. Aber sie – die Opfer – werden von Jesus getadelt, weil sich im Todeskampf ihr Blut und das Blut von Tieren vermischt hat, wofür sie keine Verantwortung tragen. Und obwohl sie – die Gläubigen - die Gepeinigten sind, wird ihnen angelastet, ein jüdisches Gesetz übertreten zu haben. Von Pilatus ist überhaupt keine Rede mehr.

 

Diese Blickrichtung Jesu lässt wohl nur ein Rückschluss zu: Nicht irgendeine Gesetzesübertretung macht einen Menschen zu einem Schuldigen; der Mensch an sich ist schuldig. Ebenso, wie Güte und Liebe Menschen miteinander verbindet, so eben auch die unvermeidliche Wirklichkeit, dass alle hinter dem Anspruch wahren Menschseins zurückbleiben. Der Mensch an sich ist schuldig, einzig weil er Mensch ist, weil er nicht Gott ist, weil er als geschaffenes Wesen unvollkommen ist. Wir sind im Glücklich sein wie im schuldig sein aufeinander verwiesen. Keine und keiner kann sich herausreden. Für das, was ist, tragen wir alle Verantwortung.

Dass der Baum am anderen Ende der Erde keine Früchte trägt und Menschen Hunger leiden müssen: Wir sind mitschuldig daran. Dass ein irrsinniger Krieg in unserer mittelbaren Nachbarschaft tobt und Menschen ihrer Zukunft und ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden: Wir sind schuldig daran. Dass aberwitzige Rechtsnationale in unseren Parlamenten sitzen und immer wieder versuchen, unsere freiheitlichen Rechte zu diskreditieren: Wir sind schuldig daran. Dass wir an den europäischen Außengrenzen inzwischen zwischen wohlmeinenden Flüchtlingen aus der Ukraine und unwillkommenen Flüchtlingen aus anderen Kontinenten unterscheiden: Wir sind mitschuldig daran.

 

Mir wird ein wenig deutlicher: Es geht nicht darum, dass eine dem anderen den moralischen Zeigefinger vor die Nase hält; es geht nicht darum, dass eine Institution wie die Kirche oder auch sonst eine Gruppierung mit dem Aufwühlen eines schlechten Gewissens arbeitet; vielmehr geht es wohl darum, dass jede und jeder einzelne wie auch jede Gruppierung erkennt, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, dass wir alle Menschen sind und als solche am leidvollen Schicksal dieser Welt mitbeteiligt sind. Niemand kann sich herausreden. Wir sind in unserer Menschlichkeit verhaftet.

 

Diese Einsicht nahe an sich herankommen zu lassen, das schmerzt unendlich, das tut bis in die Seele weh. Das muss wehtun, sonst wären wir herzlose Menschen. Wir mögen schuldbeladen sein, aber wir haben doch alle ein Herz, oder? Und jeder Herzenswärme ist eine Eigenheit gemein: Die Scham. Scham darüber, dass uns allen Fähigkeiten, Gnadengaben geschenkt sind, die wir nicht oder zu wenig nutzen. Von dieser Scham kann sich keine und keiner freisprechen. 

 

Zugleich ermöglicht das Eingeständnis dieser Scham über die Unvollkommenheit meines Menschseins aber noch ein weiteres: Einen unbändigen Ehrgeiz, dieser Unvollkommenheit des Seins die Tatsache gegenüberzustellen, dass jede und jeder von uns ein Ebenbild Gottes ist. Des Gottes, der sein Menschsein in Jesus eingebracht hat, mutig und angstfrei. Mut, Kreativität und Widerstandsfähigkeit sind die Gaben Gottes, die wir in uns erkennen sollten. Mit diesen Gaben können wir auf dieser Erde gut leben.

 

„Vielleicht trägt er doch noch Früchte.“ Die Ungewissheit kann uns keiner nehmen. Aber die Hoffnung auch nicht, die aus dem Eingeständnis unseres Menschseins erwächst. Was bei allem in unserer Hand liegt: unsere Ehrlichkeit und unser Engagement.