Andacht des Spürens

reported-175344_1280 (c) Hans Braxmeier - pixabay
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Datum:
Fr. 20. März 2020
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

 „Andacht des Spürens“

Ja, wir sind im Gebet verbunden; ja, auch in dieser Zeit, die mit nichts zu vergleichen ist, wo wir auf Abstand bleiben müssen, um einander zu schützen: auch in dieser Zeit knüpft das Gebet und das Gedenken Bande und verknüpft, was äußerlich getrennt ist.

 

So möchte ich in meinem Impuls heute betend verbunden sein mit allen, die auf die Homepage der Citykirche schauen und eine betende Erinnerung, bzw. ein erinnerndes Gebet mit Euch und Ihnen teilen. Es war in einer anderen außergewöhnlichen Zeit als der heutigen, in einer Zeit freiwilliger und gesuchter Einsamkeit; in einer Zeit gesuchter und gefundener Distanz zum Alltag, zur Arbeit, ja sogar zu lieben Menschen; in einer Zeit der Suche nach mir selbst und dem, was mich trägt. Wo und wie ginge das besser als betend? Und Beten geht bekanntlich überall.

 

Ich erinnere mich heute einer Tageswanderung auf dem Ritten, dem Hausberg von Bozen. Ich entschied mich, irgendwo auf einer einsamen kleinen Almwiese ein Nickerchen zu machen. Aus diesem Nickerchen wurde unerwarteter Weise ein Gebet. Ich liege also auf der Wiese. Der nicht ganz englisch geprägte Rasen ist durchsetzt mit leicht piksenden Gewächs (manche sagen dazu auch Unkraut); im ersten Augenblick ist das unangenehm, zumal ich das Hemd ausgezogen habe und  ich die Sonne über mir an mich herankommen lassen wollte. Es pikst und es kribbelt unter und auf mir.

Das Gras kitzelt, die Disteln stechen. Aber in diesem Augenblick der Gelöstheit und der Gelassenheit ertrage ich es nicht nur widerwillig (weil ich mich ja entschieden habe, zu ruhen und zu sonnen) ich kann es lachend und lächelnd annehmen. Ich merke, wie schön es ist, die Natur zu spüren und so auch zu genießen. Es ist das eine, im Gebet einen tiefen Dank für die Schönheit der Natur auszusprechen, etwas anderes ist es, die Natur wirklich zu spüren, ihr nicht nur als sogenannte Krone der Schöpfung großherzig Schutz zu versprechen, sondern sie auch zu spüren. Und so war es in dieser Mittagsstunde. Ich träumte mit offenen Augen, sah die Sonne über mir und spürte die Grashalmen unter mir. Und noch mehr: Die lästigen Fliegen und Mücken, die wir sonst ohne nachzudenken mit ausschweifenden Handbewegungen von uns zu vertreiben versuchen (was meist zwecklos ist) umkreisten mich. Ich spürte die Ameisen, die Libelle, die sich auf meinen Fuß setzte. Und sogar ein Feuerlurch besuchte mich hautnah, da er die Barriere meines Hosenbeines überwand und an meinem Bein hochkrabbelte. Ich spürte das Leben, das in Gestalt der Tiere mir nahe kam und ich verscheuchte nichts und die Bremse hat mich nicht gestochen und der Lurch hat unbekümmert den Weg aus meinem Hosenbein zurückgefunden und zwei Bergziegen, die sich mir ohne Scheu genähert haben, schauten mir in die Augen,

was mich ehrte, auch wenn sie mir den direkten Zugang zur Sonne einen Augenblick verwehrt haben.

Später erinnerte ich mich eines Satzes von Albert Schweitzer, der in „Kultur und Ethik“ einmal geschrieben hat: 

„Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, so also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen“. Und auch wenn mir weder Lamm noch Wolf, weder Schlange noch Löwe zu nahe gekommen sind, so kam mir der Gedanke Jesaja’s doch nahe: „Wolf und Lamm werden beieinander weiden, der Löwe wird Stroh fressen wie eine Rind und Staub wird die Speise der Schlange sein. Nicht werden sie schaden und Unheil stiften auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht Jahwe.“ Mir wurde in diesem kleinen geschenkten Moment deutlich, dass die Natur und alles, was lebt in ihr, mir Mensch vertraut – von Gott. Ein Gebet ist ein ins Wort gefasste Vertrauen darauf, dass alles Leben in der Obhut Gottes liegt.

 

Diese unerwartete Almwiesen-Erfahrung ist mir bis heute ein Gebet, dass ich immer wieder bete. Gebet ist in erster Linie: Dank für das Geschenk des Lebens. Hegel spricht einmal von der „Andacht des Denkens“; Ich habe den Augenblick des Verweilens als eine „Andacht des Spürens“ erfahren. Gebet ist der Zusammenfall von Denken und Spüren.

 

Oscar Wilde schrieb einmal: „Ich bin dahin gelangt, das Schweigen zu lieben. Schweigen scheint mir das einzige zu sein, was uns heutzutage unser Leben geheimnisvoll und wunderbar machen kann.“

In solch ein Schweigen, dort damals auf der Ritten-Alm sind mir Gebetsworte ins Herz gefallen: „Danke, Gott, Danke: für die Sonne und die Disteln, für die Bremsen und die Bergziegen. Danke, dass der Dank mein Leben bestimmt“.

 

Ich wünsche uns, dass Sie, dass ich, dass wir, in diesen ungewöhnlichen Zeiten immer noch einen Grund finden zu danken.

Ihr

Christoph Simonsen