„Wir sagen euch an den ersten Advent; sehet die erste Kerze brennt.“ Noch brennt sie nicht, gleich nach dem Konzert in Stille, werde ich sie anzünden. Und dann brennt sie wirklich, so wie jedes Jahr am ersten Advent. Ist also alles wie immer. Fast, oder eigentlich: ne, gar nicht. In diesem Jahr ist nichts wie immer. Dieses außergewöhnliche Jahr 2020 lehrt uns: Zeit kommt und geht, aber sie wiederholt sich nicht. Routine mag ein bedeutender Bestandteil unseres Lebens sein. Die Abläufe zum Beispiel, wenn wir morgens aufwachen, aufstehen, uns auf den Weg ins Bad begeben, das Frühstück bereiten, uns fertig machen für die Belange des Tages: Alles Routine. Und dennoch: Zeit wiederholt sich nicht und das Leben ist alles andere als Routine. Jeder Augenblick, jede Zeit möchte uns etwas lehren; auch dieses Jahr 2020, das uns so vieles abverlangt hat; es möchte uns eine Lehrzeit sein. Denn wir hätten die Chance; nein: Wir haben die Chance, diese Zeit des Advent in diesem Jahr jenseits aller Routine, aller Gewohnheit zu erleben. Wir haben die Chance, Weihnachten anders zu erleben, nicht aus Zwang heraus, weil wir den Schutzbestimmungen der Covid-19 Pandemie ausgesetzt sind, sondern weil wir es wirklich wollen. Diese Zeit gibt uns die Chance, die Menschwerdung Gottes weniger vertraut, aber gerade deshalb um so provokanter und intensiver wahrzunehmen.
Der Krippenweg hier in unserer Citykirche, der uns begleiten möchte hin zum Weihnachtsfest, mag uns einige Anstöße geben. Die Schriftworte des 1. Advent führen uns eines unmissverständlich vor Augen: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist kein Wohlfühlgott. Keiner, der uns das Leben versüßen möchte; kein Feiertagsgott, der die Wahrheiten des Alltags übertüncht. Menschwerdung ist eine ernste Angelegenheit, eine ernste Wirklichkeit; Menschwerdung birgt Konsequenzen in sich. Gottes Menschwerdung räumt auf, deckt auf, was an Unmenschlichkeit in der Welt ist.
Gottes Menschwerdung schließt definitiv eines aus: Menschenverachtung, jegliche Art von Diskriminierung, denn Diskriminierung entwürdigt den Menschen. Diskriminierung – was für ein Wort! „Nicht beachten“, bedeutet es. „In eine Ecke stellen“, „meiden“.
Auch „benachteiligen“ und „herabwürdigen“. Also ganz aktiv und absichtlich einem Menschen die Würde rauben, die er hat. Ihn draußen lassen und ihn nach draußen stellen. Deshalb steht unser erstes Krippenbild bewusst ‚draußen‘, vor der Tür.
„Unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid“, heißt es bei Jesaja. Dies mag man im übertragenen Sinn verstehen. Wir, die Vorbereitungsgruppe dieses Krippenweges haben es aber ganz wörtlich verstanden. Das Kleid, das Hemd, das wir tragen: irgendwo am anderen Ende der Welt produziert, von Kinderhänden genäht, mit ein paar Cent finanziert, damit wir es erwerben können zu einem Preis, der kaum dem Wert des Materials entspricht, geschweige denn eine gerechte Entlohnung der Menschen gleichkommt. „Unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid“. Lassen wir diese Wirklichkeit doch einmal buchstäblich an uns heran und übertragen diese Wirklichkeit dann auf unser normales, alltägliches Leben. Wir ziehen die Ungerechtigkeit an, die anderen Menschen die Last eines unerfüllten Lebens zumutet.
Diese Zeit im Advent 2020 gibt uns die Chance, die Menschwerdung Gottes weniger vertraut, aber um so provokanter und intensiver wahrzunehmen. Ja das mag sein: Manches können wir nicht mehr hören und zu manchem mögen wir einfach nichts mehr sagen. Aber nicht hören wollen, nicht bekennen wollen, vielleicht gerade noch dazu stehen, dieser Ungerechtigkeit gegenüber hilflos da zu stehen, führt uns nicht zu der Menschlichkeit, die Gott meint. Jetzt haben wir die Zeit, uns zu besinnen. ‚Menschenverachtung‘, ‚Diskriminierung‘, das sind nicht nur Worte unserer Sprache; es sind auch Worte unserer Wirklichkeit. An uns liegt es, die Wirklichkeit menschlicher werden zu lassen.