Auch in diesen letzten Tagen des zu Ende gehenden Jahres 2020 beginnen die Nachrichten meist mit den tagesaktuellen Zahlen: Wie viele Neuinfektionen, wie viele Sterbefälle im Kontext einer Corona Infektion. Und dann werden diese Zahlen verglichen, mit den Fakten der vergangenen Woche. Dass sich hinter jeder Zahl ein Mensch verbirgt und ein je einzelnes schicksalhaftes Drama, geht zumeist unter; Zahlen sind anonym und Vergleiche mögen einer Statistik dienlich sein, die eine dahinter liegende Tragik vergessen macht.
Ich erinnerte mich in einem stillen Augenblick der Reflexion auf dieses so andere Jahr 2020 einer künstlerischen Arbeit eines jungen Künstlers, dessen Name mir leider entfallen ist. Umso stärker ist die Erinnerung an dieses Werk:
Leere Schalen von Pistaziennüssen, zusammengelegt zu einem großen Kreis. Die Photographie des Kunstwerks vermittelt einen nahezu vollkommenen ästhetischen Eindruck; die zweite Aufnahme, die der Photograph liegend aufgenommen hat, zeigt die Einzigartigkeit jeder einzelnen Schale und deren Verletzbarkeit. Mich haben beide Aufnahmen in je anderer Weise fasziniert und ins Nachdenken gebracht.
Die Gedankenbrücke mag verwegen klingen, aber mir ist sie sehr zugänglich in diesem zu Ende gehenden Jahr 2020: Um der Tiefe und der Weite dessen gewahr zu werden, was von diesem Jahr 2020 bleibt, bedarf es eines nahen Blickes auf die vielen unterschiedlichen Gebrochenheiten, denen so viele Menschen – sicher in je eigener Weise auch Du und ich – ausgesetzt gewesen sind.
Hinter jeder Zahl, die uns in den Nachrichten erreicht hat: Die Zahl der Infizierten und Verstorbenen aufgrund der Corona Infektion; die Zahl der Verletzten und Toten der kriegerischen Auseinandersetzungen in den verschiedensten Ländern dieser Erde; die Zahl der in den Meeren Ertrunkenen, die nichts anderes suchten als Schutz; die Zahl der Verletzten und Toten der Attentate in unserer unmittelbaren europäischen Nachbarschaft; die Zahl der Obdach-, Heimat-, Arbeitslosen – hinter all diesen Zahlen zeigt sich ein Mensch, der wie alle Menschen Glück und ein erfülltes Leben suchte.
Eine andere Einsicht ist mit dieser ersten eng verknüpft: Ich bin Teil dieses Ganzen. Ich bin nicht Zuschauer, geschweige denn Schiedsrichter; nein: ich bin Mittragender, Mitfühlender, Mitverantwortlicher, auch Mitschuldiger.
An dieser Jahreswende bedarf es eines herausfordernden Mutes, sich in das eigene
Leben herunterzubeugen, um sich den ungezählten Gebrechen: den Zugefügten wie den Erfahrenen, zu stellen. Nicht Zahlen sollten am Ende dieses Jahres 2020 in Erinnerung bleiben, sondern die Erkenntnis, wie verletzlich unser aller Leben ist und wie dankbar wir sein dürfen für die noch so kleinste Glückserfahrung.
Ich wünsche uns eine innere Freiheit, dass wir gegen alle Zerriebenheit, und gegen jedes bessere Wissen, zuversichtlich hineingehen in das Neue Jahr 2021 im Vertrauen darauf, dass keiner von uns, dass kein Geschöpf auf dieser weiten Erde alleine ist. „We’ll never walk alone“.