In diesen Tagen erinnern wir uns zweier Ereignisse, die unterschiedlicher nicht sein können.
Vor genau 75 Jahren traf Hiroshima eine Atombombe, die die Menschen, ja die ganze Schöpfung an die Hölle herangeführt hat. Ein absolutes Tabu wurde durchbrochen, eine Waffe wurde eingesetzt, die nie zum Einsatz kommen durfte. Seit diesen Tagen ringt die Welt um Gesetze und Vereinbarungen, den Einsatz dieser Vernichtungswaffe zu verhindern. Und gerade heute spielen die Weltmächte wieder mit dem Feuer, wenn sie Vereinbarungen auflösen und neue Drohungen aussprechen. Hiroshima mag Geschichte sein, aber wer sollte besser wissen als wir, dass Geschichte nicht gleich zu setzen ist mit Vergangenheit. Wir müssen wachsam bleiben.
Das andere Ereignis liegt 60 Jahre zurück: Michael Ende veröffentlicht ein Kinderbuch: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Später wurde es mit den Marionetten der Augsburger Puppenkiste aufgeführt. Wie gern erinnere ich mich an diese Fernsehstunden, die so friedlich und heiter waren.
Ich möchte diese beiden so unterschiedlichen Ereignisse in einen Zusammenhang bringen. Dabei hilft mir ein Zitat aus der ersten Enzyklika des damaligen Papstes Benedikt: „Liebe ist Ekstase, aber Ekstase nicht im Sinne des rauschhaften Augenblicks, sondern Ekstase als ständiger Weg aus dem in sich verschlossenen Ich, zur Hingabe und so gerade zur Selbstfindung, ja zur Findung Gottes.“
Dabei fällt mir auf, dass der damalige Papst nicht von ‚Wir‘, sondern von ‚ich‘ spricht. Die Hinterfragung des „Ich“ war und ist ein Wesensmerkmal der Psychoanalyse. Der Wiener Arzt Alfred Adler hob Anfang des 20. Jahrhunderts die Aggression hervor, den Wunsch also, sich in der Welt einen immer besseren Platz verschaffen zu wollen. Seiner Ansicht nach wird das „Ich“ verfolgt von der Angst, durch einen Rivalen verdrängt oder von seinesgleichen gedemütigt zu werden. Und weiter sagt Adler dann, dass die Menschen einen angeborenen Sinn für Würde und Selbstachtung hätten, und folglich dann an Neurosen leiden müssten, wenn sie beleidigt und gedemütigt würden, wenn sie unter Armut litten oder diskriminiert würden. Ob diese – eigentlich viel zu einfach klingende – Erkenntnis der Grund dafür ist, dass Menschen in Unfrieden und Streit und Völker in kriegerische Auseinandersetzungen verfallen?
Der ehemalige Papst ist nun ganz gewiss kein der Psychoanalyse in besonderer Weise zugewandter Theologe. Dennoch finde ich es bemerkenswert, dass der Papst dem „Ich“ ein besonderes Augenmerk zuwendet. Nicht nur ein verschmolzenes „Wir“ (was man in der Theologie vermuten könnte) wird in Bezug auf die Liebe thematisiert, sondern auch das eigenständige „Ich’“ und es gilt, eben diese Eigenständigkeit zu bewahren, zur „Selbstfindung“ zu gelangen.
Perspektive der Liebe darf nicht die Selbstaufgabe, sondern die Selbstfindung sein. Und hier kommt Jim Knopf und Lukas und Frau Waas und wie sie alle hießen ins Spiel. Michael Ende, der Schriftsteller, entwickelte seine Figuren so, dass alle einander zugewandt waren in der Hoffnung, dass jede einzelne Person, sie selbst sein konnte. Jim Knopf war anders als Lukas oder Frau Waas; aber alle waren behilflich in ihrer Herzensweite, dass gerade die Verschiedenheit der verschiedenen Charaktere Fundament war für ein friedliches Auskommen miteinander.
Für Josef Ratzinger ist die Selbstfindung gleichgeschaltet mit der Findung Gottes. Gott, nicht über der Schöpfung, Gott nicht im die Welt übersteigenden, sondern Gott in der Schöpfung, Gott im Menschen. Indem sich Menschen aufeinander hin vorbehaltlos öffnen, gelangen sie zur Gotteserkenntnis.
Das mag jetzt vielleicht ein wenig zu einfach erscheinen, aber ich wünschte mir, dass in den Entscheidungsträgern heute ein wenig von Lukas und Jim Knopf stecken würde. Die Welt wäre zweifelsohne sicherer und friedlicher. Und ich wünschte mir, auch in uns würde der kleine Jim Knopf lebendig werden, das wäre ein gutes Vorbild für die Großen dieser Welt.