Ansprache von Christoph Simonsen zum 19. Sonntag im Jahreskreis (A)

Datum:
So. 9. Aug. 2020
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Evangelium nach Matthäus (14,22-33)

Gleich darauf drängte er die Jünger, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um für sich allein zu beten. Als es Abend wurde, war er allein dort. Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind. In der vierten Nachtwache kam er zu ihnen; er ging auf dem See. Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst. Doch sogleich sprach Jesus zu ihnen und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! Petrus erwiderte ihm und sagte: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme! Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und kam über das Wasser zu Jesus. Als er aber den heftigen Wind bemerkte, bekam er Angst. Und als er begann unterzugehen, schrie er: Herr, rette mich! Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, Gottes Sohn bist du.

 

Ansprache:

Heute sagt man, wenn man einen anderen verletzen will, nicht mehr „du Blödmann“ oder „Du Spinner“ (und ihr könnt dem sicher noch andere Schimpfworte hinzufügen, die hier in der Kirche nicht sprachfähig sind); heute zeigen junge Menschen ihre Verachtung gegenüber anderen, indem sie ihr Gegenüber als Opfer betiteln: „Du Opfer“. Mehr Verletzung geht eigentlich nicht, als einen anderen zum Opfer zu stilisieren. Opfer kann man nach Belieben hin und her schieben, sie benutzen, wie es einem in den Kram passt. Man kann sie bemitleiden, man kann sie missbrauchen, man kann sie mit Nichtachtung strafen. Opfer sind die Verfügungsmasse derer, die sich als Sieger hervortun wollen. Und unsere Welt ist Spitze darin, Opfer zu produzieren um vermeintlichen Siegern ihr angekratztes Ego aufzupolieren; unsere Welt nicht minder als auch alle Religionsgemeinschaften in ihr, unsere christliche sehr wohl mit eingenommen.

 

Seit sieben Jahren tobt der Krieg in Syrien. Die Opfer dieses Krieges sind zum Spielball der Weltmächte, noch mehr: sie sind zur Verfügungsmasse egoistischer Interessen geworden: ‚Du hältst sie uns vom Hals und wir schieben dir die Milliarden rüber‘. ‚Du Opfer‘, ‚Du Flüchtling‘, ‚Du Wirtschaftsschmarotzer‘: Dein Pech, dass du zur falschen Zeit am falschen Ort lebst.

 

Die Opfer der Corona-Pandemie in den südlichen Ländern unserer Erde sind die Menschen in den Armenvierteln am Rand der Großstädte. Ihr Leid wird billigend in Kauf genommen, um ganz andere wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. ‚Du Opfer‘, ‚Du Looser‘, ‚Du Vergessener: Dein Pech, dass dich die falschen regieren.

 

Die Opfer der immer wieder in anderem Gesicht hereinbrechenden Naturkatastrophen, irgendwo weit weg von uns. Im besten Fall schickt der Entwicklungshilfeminister eine Überbrückungshilfe dorthin, um guten Willen zu zeigen und vergessen zu machen, dass das Weltklima auch von uns zu verantworten ist. ‚Du Opfer‘, Du Spaßverderber‘, Du Versager‘: Dein Pech, dass dir das Leben nicht hold ist.

 

Die Frauen in den Kirchen und Religionsgemeinschaften, die zwar dienen dürfen, aber nicht mitgestalten. Die wiederverheiratet Geschiedenen, die zwar Kirchensteuer zahlen dürfen, aber nicht teilhaben können an der Mahlgemeinschaft, die Transmenschen, die es nicht geben darf, weshalb man sie einfach übersieht. ‚Du Opfer‘, ‚du unerlaubter Grenzüberschreiter‘, ‚Du nicht in unseren Augen Vorgesehener‘: Dein Pech, dass Du nicht in unseren Normenkatalog passt.

 

Opfer sein ist echt scheiße, die Zukunft gehört den Siegern, oder besser denen, die sich dafür halten. Und es gibt kaum einen Bereich im Zusammenleben der Menschen und Gesellschaften, wo nicht irgendeine Art von Kampf ausgetragen wird, um die einen zu Opfern und die anderen zu Siegern abzustempeln. Oft werden diese Kämpfe offen ausgetragen, nicht selten subtil, manchmal sogar gänzlich unbewusst. Unsere Welt ist ein Kampfplatz. Und seien wir ehrlich, so entspannt wir hier gerade auch zusammensitzen und feiern mögen; auch wir sind eingebunden in dieses beschämende Spiel, in dem die Sieger über die Opfer triumphieren. 

 

Paulus spricht einmal von einem guten Kampf, den wir kämpfen sollen? Die Heilige Schrift selbst anerkennt also, dass auch wir Christinnen und Christen zum Kampf herausgefordert sind. Aber wann ist ein Kampf gut? Gibt es Möglichkeiten, auf eine Weise zu kämpfen, so dass es am Ende weder Opfer noch Sieger gibt?

 

Die jüdische Schriftstellerin Zeruya hat einmal, im Blick auf die Kämpfe in der Welt geschrieben: Die entscheidende Frage sei nicht, wann ein Konflikt begonnen hat, sondern wann er zu Ende sein wird. Nicht der trägt die größere Schuld, der den Konflikt begonnen hat, sondern der, der keinen Weg gefunden hat, ihn zu beenden. Als Christinnen und Christen können wir nicht so tun, als gäbe es keine Konflikte, als wären wir nicht auch oft Verursacher von Konflikten. Die wesentliche Frage aber ist: Sind wir bereit, Konflikte einer Lösung zuzuführen, indem das leidliche Spiel von Siegern und Verlierern keine Bedeutung mehr hat.

 

Das heutige Evangelium setzt sich auch mit diesen Fragen auseinander und nennt uns einen Schlüssel zur Beantwortung: es fragt uns danach, ob wir fähig sind zu trauern. Die Fähigkeit zu trauern ist wohl der Schlüssel dazu, vom Ende her das Unrecht betrachten zu können und weniger vom Ursprung her, um so einem neuen Anfang eine Chance zu geben. Wer sich der Trauer hinzugeben fähig ist, der wird vom Töten und Quälen, vom Verletzen und Erniedrigen, vom Ausgrenzen und Kleinmachen so angewidert sein, dass er bzw. sie bereit ist, ein Ende zu setzen, was  lieber sie oder ihn weinen lässt, anstatt andere ins Verderben zu stürzen. Wenn aus der Wut Trauer wird, dann hat der Frieden eine Chance. Wenn aus dem Gedanken "Genug ist genug" ein Empfinden wird, das tief in der Seele weh tut, dann kann sich die Frage nach dem Leben neu Bahn brechen. Wirkliche Trauer ist mehr als ein Gefühl auf Zeit. Die Bereitschaft zu trauern bedarf eines wahrhaftigen Willensaktes. Trauer ist eine Lebenseinstellung, die geübt sein will, um sensibel zu bleiben für die Unvollkommenheit allen Lebens. Wer nicht zu trauern vermag, dem bleibt entweder nur die Gleichgültigkeit oder der Hass.

 

Jesus hätte allen Grund, der Welt gegenüber verhasst zu sein. Wir hören heute im Evangelium davon, dass er sich zurückzieht. Er sucht die Einsamkeit auf. Ohne genau zu wissen, warum er sich abwendet, ahnen wir doch eine Erschütterung in seinem Innern: Eine Enttäuschung, eine menschliche Arglist, die ihn erschrocken hat, eine der vielen Unmenschlichkeit, denen er immer wieder begegnet ist und die ihn so oft fragen ließen, warum Menschen so bitter sein können, so zornig, so unmenschlich. So oft hatte Jesus Grund auf dieses Leben verächtlich zu schauen, aber er entscheidet sich dazu, sich der Einsamkeit zu überlassen und zu trauern und eben so lernt er die Welt neu lieben trotz aller Lieblosigkeit in ihr  und er lernt die Menschen lieben, die so herzlos sein können und er gibt ihnen, was sie so dringend brauchen: Brot. Aus der frei gewählten Einsamkeit und der zugelassenen Trauer erwächst die Hoffnung einer neuen Zukunft. 

 

Ich muss zugeben, dass mir diese Haltung selbst schwerfällt. Der beste Beweis dafür ist meine Predigt vom vergangenen Sonntag. Zu dem, was ich dort gesagt habe, stehe ich auch heute. Dennoch, da stehen zu bleiben wäre zweifelsohne zu wenig. Jesu Haltung, die wir heute hören durften, fordert uns heraus, nicht in der Verzweiflung, nicht in Ärger und Wut stecken zu bleiben, sondern aus ihr heraus in der Stille nach tragfähigen neuen Wegen zu suchen, so dass es auch unter uns in der Kirche nicht mehr Sieger und Opfer gibt, sondern gemeinsam Suchende und Hoffende.

 

Christoph Simonsen